31.08.2019

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Es ist nie der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen, eine Geschichte wie diese zu erzählen. Es ist nie der verkehrte Zeitpunkt, damit anzufangen, eine Geschichte wie diese zu erzählen.


Diese Geschichte ist eine traurige Geschichte. Ja. Was nicht heißt, dass alles an ihr traurig ist. In dieser Geschichte werden nicht nur die schweren, die harten und die wirklich schlimmen Momente erzählt werden. Das werden sie, weil sie erzählt werden müssen. Weil sie ein Teil deines Lebens, ein Teil unseres Lebens sind. Und dies ist die Geschichte deines Lebens – deines ganzen Lebens. Es ist eine Geschichte von der Liebe zum Leben, vom Hoffen, vom Kämpfen, vom tiefen Fallen und dem Wiederaufstehen. Eine Geschichte vom Zusammenhalten. Eine Geschichte von den schönen Momenten, vom Lachen, vom Loslassen. Und eine Geschichte von Fischbrötchen.


Ich erzähle diese Geschichte – deine Geschichte – aus meiner Sicht. Du wirst eine andere Sicht darauf haben. Natürlich wirst du das. Du wirst es anders erlebt haben, niemand hat das erlebt, das du erlebt hast. Es ist meine Sicht, weil ich nicht einmal erahnen kann, wie es sich für dich angefühlt hat. Weil ich zwar versuchen kann und konnte, die Welt mit deinen Augen zu sehen. Aber eben nur versuchen.


Ich erzähle nicht chronologisch. Beginnen werde ich an dem Punkt der Geschichte, der für mich – und ich bin mir sicher auch für dich – den drastischsten Einschnitt in dein Leben bedeutet hat. Ein Einschnitt, der für dich, für mich und für einige andere Menschen wenn nicht alles, so doch vieles verändert hat.


Im Sommer 2014 dachten wir, es sei überstanden. Der Alptraum sei vorbei. Nach der ersten Diagnose im Januar 2013 hattest du zwei Operationen mit Bravour gemeistert. Ein Hirntumor ist kein Blinddarm. Weder was die Schwere und Komplexität des Eingriffs betrifft, noch was die Wahrscheinlichkeit betrifft, dass ein Eingriff mehrmals nötig sein wird. Wer wird schon zwei Mal am Blinddarm operiert. Bei der zweiten OP waren es nur noch kleine Tumoren, die erfolgreich entfernt werden konnten. Ja, den korrekten Plural von Tumor durften wir lernen – wie so vieles andere, auf das wir gerne verzichtet hätten. Es folgte eine Chemotherapie, eine Strahlentherapie und – um so sicher zu gehen wie es nun mal möglich ist – eine weitere Chemotherapie. Das sollte es dann gewesen sein.


Im Sommer 2014 dachten wir, es sei überstanden. Der Alptraum ging weiter. In der Nacht vom 30. auf den 31. August 2014 rief mich deine Mutter mitten in der Nacht an, um mir zu sagen, dass du beim Versuch aufzustehen einfach umgefallen seist. Der Rettungswagen sei unterwegs, die Klinik informiert. Ich war nur drei Häuser weit entfernt – die Umstände kennst du ja. Du lagst auf deinem Bett, sahst mich an. Mit müden Augen, mit Angst und Unverständnis. Die Fahrt ins Krankenhaus erfolgte still, beinahe lautlos. Keine Sonderrechte, kein Blaulicht, kein Martinshorn. Du mochtest es still, ich weiß. So warst du. Nur kein großes Aufheben machen. Aber in mir tobte die blanke Panik. Ich hätte mir den größten Lärm, die größte Eile, die höchste Priorität gewünscht!


1:45. Du hattest die höchste Priorität. In der Klinik war das MRT schon vorbereitet, das diensthabende Team der Neurochirurgie war schon vor Ort und bereitete sich vor. Der Hintergrund – das zweite Team, das in den Dienst gerufen wird, wenn ein schwerer, zeitaufwändiger Notfall reinkommt – war schon unterwegs, bevor sie dich überhaupt untersucht hatten. Deine Mutter und ich saßen dort in der nächtlich leeren Empfangshalle, deine Schwester war über Nacht bei einer Freundin, und warteten. Die Diagnose war ein Rezidiv – ich habe dieses Wort hassen gelernt – mit einer Schädigung eines großen Blutgefässes und einer massiven Hirnblutung in der Folge. Du warst schon auf dem Weg in den OP, als sie uns die Diagnose mitteilten – und ich stand wieder mit deinen Schuhen in der Hand. Wir durften sie da lassen. Diesmal. Im Aufenthaltsraum der MTAs war Platz dafür. Was folgte war eine Nacht des Wartens.


„Im Regen stehen“ ist eine landläufige Redewendung für Hilflosigkeit und Sich-allein-gelassen fühlen. Ich stand im Regen in dieser Nacht. In jeder Hinsicht. Es goss wie aus Eimern und ich war allein. Vielleicht wollte ich es so. Ich hätte mit zu deiner Mutter gehen können. Das hatte sie mir angeboten. Das wollte ich nicht. Zu der Frau, die ich zu der Zeit liebte, konnte ich nicht. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Bis ich nass genug war, um nach Hause zu gehen. In die alte Wohnung, die Wohnung, in der du groß geworden bist. Die Wohnung unserer gemeinsamen Familienzeit, deiner Kindheit, eurer Kindheit. Die Wohnung, die ihr gerade verlassen hattet, aus den Gründen, die du kennst. Und du? Wie ging es dir in diesen Stunden? Ich kann es nur erahnen. Nur hoffen. Fachleute sagen, dass Patienten in Vollnarkose keine Wahrnehmung haben. Keine Schmerzen. Keine Angst. Deshalb ist das Erwachen aus einer Narkose so abrupt. So unwirklich. Ich hoffe, sie haben recht.


Das Warten setzte sich fort. Die Empfangshalle der Neurochirurgie erschien mir am frühen Morgen einladender, als jeder andere Ort der Welt. Es gab ohnehin in dem Moment keinen Ort für mich, keine Zuflucht, keinen Hafen. Das Wort Morgengrauen kann eine bedrohliche Nebenbedeutung haben. Als die Nachricht kam, dass die OP überstanden sei und du auf die Intensivstation verlegt worden warst, verlegte ich mein Warten in den fünften Stock. Deine Mutter kam. Wir warteten. Wir durften zu dir. Wir warteten. Und dann kam das Aufwachen. Und die Hoffnung und die Freude und die Erleichterung.


Du konntest uns wahrnehmen. Reagiertest auf uns. Dass etwas nicht richtig war, wurde dennoch schnell deutlich. Grotesk, oder? Ich sage „nicht richtig“. Was könnte noch weniger richtig sein, als dich auf der Intensivstation liegen zu sehen nach einem massiven operativen Eingriff am Gehirn? Was konnte überhaupt noch richtig sein? Konnte es schlimmer sein? Ja. Konnte es. Deine linke Gesichtshälfte hing ein wenig, deine Sprache war etwas verwaschen. Dein linker Arm war ohne Funktion. Dein linkes Bein auch. Es mag absurd erscheinen, aber zu diesem Zeitpunkt wurde mir die Gefährlichkeit deiner Krankheit, die fatale Präsenz der Krebszellen wahrscheinlich zum ersten Mal bewusst. Nach anderthalb Jahren mit zwei OPs und Chemo und Strahlentherapie. Davor warst du ja auch immer wieder aufgestanden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Steh-auf-Männchen. Wie beim ersten Eingriff. Neun Stunden Hirn-OP – vierzehn Tage später wieder in der Schule. Dieser Eingriff war anders. Dieser Einschnitt war anders. Dieser Tag war anders. Es war der 31.08.2014 und danach war nichts mehr wie zuvor.


Deshalb fange ich heute – am 31.08.2019 – damit an, diese Geschichte, deine Geschichte zu erzählen.




„drei dinge
gibt es
an die ich mich
erinnern möchte
eines davon ist dein lachen“

Wie kann, wie soll ich weitererzählen? Natürlich fällt es mir schwer, von dir zu erzählen. Deine Geschichte zu erzählen. Alles nochmal Revue passieren zu lassen. Die Gedanken in Worte zu fassen. Natürlich sind da die Zweifel, ob diese Geschichte nicht lieber unsere bleiben soll. Ich glaube nicht. Ich glaube, ich hoffe, sie hilft. Mir. Denen, die dich kennen. Die sich an dich erinnern. Der Mensch erzählt seit grauer Vorzeit gegen das Vergessen an. Und gegen seine Angst. Ich hoffe, mein Erzählen von uns – von dir – hilft Anderen. Anderen, die ähnliches erlebten und erleben. Wie soll ich weitererzählen? Immer wieder diese Fragen. Wie geht es jetzt weiter? Wie weitermachen? Im Leben, wie in der Erzählung. Am besten so, wie du warst. Mit der Erinnerung an dein Lachen, deinen Humor. Das prustende, übersprudelnde Lachen, das manchmal nicht mehr aufzuhalten war. Wie in jenem Winter, als du ganz klein warst, ich denke du warst ungefähr zweieinhalb Jahre alt. Wir waren im Park zum Schneemann bauen. Du lachtest über irgendwelche albernen Faxen, die ich gemacht habe. Du lachtest so tief, so offen, aus ganzem Herzen, so überwältigend, dass es dich in deinem Schneeanzug von den Beinen geholt hat. Du fielst um, lagst im Schnee und lachtest einfach weiter. Dein Lachen hast du dir nie nehmen lassen. Als es besonders hart war, wurde es leiser. Verloren hast du es bis zum Schluss nicht.

Fortsetzung folgt.

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